Am 6. Oktober 2025 fand im Rahmen unserer Online-Vortragsreihe Notfallpsychologie Insight ein weiterer Vortrag statt:
Notfallpsychologische Unterstützung nach Unfällen im Straßenverkehr – Und die Lücke des SGB XIV, von Dr. Silke von Beesten
Für alle, die nicht dabei sein konnten, hier ein kurzer Bericht (auch als PDF), sowie ein gekürzter Mitschnitt:
Verkehrsunfälle gehören zu den einschneidendsten Ereignissen im Leben vieler Menschen. Sie geschehen plötzlich, oft ohne jede Vorwarnung, und hinterlassen nicht nur körperliche, sondern auch tiefgreifende psychische Spuren. In ihrem Vortrag beleuchtete Dr. Silke von Beesten (Institut für Physikdidaktik, Universität zu Köln) die aktuelle Versorgungslage sowie die bestehende Gesetzeslücke bei der psychologischen Unterstützung von Unfallopfern und machte deutlich, dass Betroffene im bestehenden System vielfach allein gelassen werden.
Psychische Folgen und Risikofaktoren
Nach einem schweren Verkehrsunfall zeigen viele Betroffene neben physischen Verletzungen häufig auch akute psychische Symptome wie Desorientierung, Erinnerungslücken, Angst, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme. Langfristig entwickeln sich daraus nicht selten Depressionen, Anpassungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) oder Fahrängste. Studien belegen, dass selbst 18 Monate nach einem Polytrauma noch rund ein Drittel der Betroffenen an PTBS, Depressionen oder chronischen Schmerzen leidet. Dr. von Beesten betonte, dass das Risiko für eine Traumafolgestörung von verschiedenen Faktoren abhängt. Vor dem Unfall wirken sich psychische Vorbelastungen, geringe Kontrollüberzeugungen oder soziale Isolation ungünstig aus. Während des Ereignisses spielen subjektive Bedrohungserlebnisse und Dissoziation eine Rolle. Nach dem Unfall begünstigen insbesondere vermeidendes Coping, kognitive Verzerrungen und mangelnde soziale Unterstützung die Entwicklung psychischer Folgeprobleme.
Die Vielfalt der Reaktionen
Die psychischen und körperlichen Reaktionen nach einem Unfall sind breit gefächert. Auf kognitiver Ebene zeigen sich Verwirrtheit, Entscheidungsunsicherheit und Gedächtnisstörungen. Emotional dominieren Schock, Angst, Wut oder Ohnmacht. Viele Betroffene erleben Kontrollverlust und Todesangst. Körperliche Symptome wie Herzrasen, Atemnot oder Zittern verstärken das Bedrohungserleben zusätzlich. Häufig kommt es zu sozialem Rückzug, verändertem Schlafverhalten oder dem Verlust alltäglicher Routinen. Gerade diese Mischung aus emotionalem Ausnahmezustand und körperlicher Anspannung verdeutlicht, wie wichtig eine frühzeitige psychosoziale Unterstützung ist.
Effekte früher Intervention
Frühe Krisenintervention verbessert die Prognose, verkürzt Erholungszeiten und reduziert Folgekosten im Gesundheits- und Rentensystem. Dennoch wird eine strukturierte psychologische Ersthilfe nach Verkehrsunfällen in Deutschland bislang nur unzureichend angeboten. Während Einsatzkräfte über etablierte Strukturen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) verfügen, fehlt für unfallbeteiligte „Zivilpersonen“, d.h. Betroffene, Angehörige oder Augenzeug*innen, eine vergleichbar verlässliche Unterstützung.
Die Lücke im Sozialrecht – Verkehrsunfälle als „fahrlässige“ Ereignisse
Ein zentraler Punkt des Vortrags war die rechtliche Einordnung im Sozialgesetzbuch XIV (SGB XIV). Dieses Gesetz regelt die staatliche Wiedergutmachung für Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger Gewalttaten. Opfer von Verkehrsunfällen fallen jedoch nicht darunter, da diese in der Regel als fahrlässig verursacht gelten. Nur bei gezielten Angriffen mit einem Kraftfahrzeug, wie etwa im Rahmen terroristischer oder extremistischer Taten, greift das Gesetz. Damit bleibt eine große Gruppe von Betroffenen ohne Anspruch auf spezialisierte psychotherapeutische und soziale Leistungen, die Gewaltopfern zustehen.
Praktische Hürden für Betroffene
Neben der rechtlichen Ausgrenzung bestehen zahlreiche praktische Hürden. Komplizierte Antragsverfahren, unklare Kostenträger und lange Wartezeiten auf Therapieplätze erschweren den Zugang zu Hilfe. Besonders im ländlichen Raum mangelt es an Traumatherapeut*innen und viele Versicherungen übernehmen Kosten erst nach Klärung der Schuldfrage. Hinzu kommen gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber psychischen Beschwerden, so dass viele Betroffene Unsicherheiten bei der Hilfesuche zeigen, ihre Beschwerden erst spät thematisieren oder sich von ihrem Umfeld nicht ernst genommen fühlen.
Ein Blick über die Grenzen
Andere europäische Länder sind hier deutlich weiter. In Österreich gehören Traumaambulanzen zur regulären Akutversorgung, finanziert über die Sozialversicherung, mit einem garantierten Ersttermin binnen 14 Tagen. In den Niederlanden existiert ein nationales Protokoll für psychosoziale Betreuung nach Unfällen; Betroffene werden direkt aus der Klinik an das Landelijk Centrum voor Traumatische Stress gemeldet. Schweden wiederum integriert die psychologische Akutversorgung in die kommunale Struktur und ermöglicht unbürokratische Hilfe ohne gesonderten Antrag. Diese Beispiele zeigen, dass eine flächendeckende, niedrigschwellige Versorgung generell machbar ist.
Eine Fallgeschichte
Um die Folgen der bestehenden Lücke greifbar zu machen, wurde der Fall einer Radfahrerin vorgestellt, die bei einem Abbiegeunfall von einem LKW erfasst und schwer verletzt wurde. Neben lebenslangen körperlichen und psychischen Schäden kämpfte sie jahrelang mit der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers um Entschädigung. Der zermürbende Rechtsstreit, belastende Gutachten und die anhaltende Unsicherheit verschärften die Traumafolgen. Erst durch ein außergerichtlich moderiertes Verfahren einer Opferunterstützungsorganisation konnte schließlich ein Vergleich erzielt werden. Ein Erfolg, der zugleich verdeutlicht, wie sehr Betroffene auf Eigeninitiative und Ausdauer angewiesen sind.
Forderungen an Politik und Versorgungssystem
Abschließend wurden konkrete Reformvorschläge diskutiert. So sollte der Anspruchskreis im SGB XIV auf Opfer schwerer Unfälle ausgeweitet werden. Zudem sollte das SGB V um eine neue Leistungsnorm ergänzt werden, die Traumaambulanzen als Regelversorgung für akute psychische Krisen nach Unfällen festschreibt. Eine klare Finanzierungsregelung, die eine Soforthilfe von bis zu 15 Sitzungen unabhängig von Schuldfrage oder Kostenträger ermöglicht, wäre hierbei essenziell. Darüber hinaus sollte eine psychotraumatologische Akutversorgung verbindlich in die Strukturen von Rettungsdiensten und Krankenhäusern integriert werden. Schließlich ist eine verordnungsrechtliche Klarstellung erforderlich, dass auch unfallbedingte Traumata ohne Gewalteinwirkung unter diese Versorgung fallen.
Fazit
Verkehrsunfälle sind keine bloßen „Sachverhalte des Straßenrechts“, sondern existenzielle Lebensereignisse. Wer einen solchen Unfall überlebt, ob als Betroffener, Angehöriger oder Zeug*in, verdient psychologische Unterstützung, die ebenso selbstverständlich sein sollte wie die medizinische Notfallversorgung. Es ist höchste Zeit, diese Lücke zu schließen, sowohl rechtlich und strukturell als auch gesellschaftlich.
Für die Fachgruppe Notfallpsychologie,
Oliver Tucha