Bericht 37. Arbeitstagung FG Kommunikation

Am 19. und 20. Mai 22 konnte die 37. Auflage der Arbeitstagung wieder in der Tagungsstätte der Uni Gießen, dem Schloss Rauischholzhausen, in Präsenz stattfinden.

Der Teilnehmerkreis war mit 19 Teilnehmenden deutlich kleiner als im Vorjahr, aber alle, die dabei sein konnten (es gab Corona-bedingte Absagen und diverse Terminkonflikte), haben den persönlichen Austausch in herrschaftlichem Ambiente sehr genossen.
Fachlich vorbereitet wurde das Programm wie im Vorjahr von Beyhan Ertanir (Windisch) und Susanne Vogt (Frankfurt). Für die Keynote-Vorträge konnten Claudia Männel (Berlin, Leipzig) sowie erneut Peter B. Marschik (Göttingen) gewonnen werden.
Die Tagung begann mit dem auf Englisch gehaltenen Vortrag von Männel, die u.a. den Spracherwerb bereits im Säuglingsalter über elektrophysiologische Untersuchungen mittels Elektroenzephalogramm (EEG) erforscht. Die frühe Verarbeitung phonologischer Informationen, z.B. akustischer Modulationen auf Silben-, Wort- und Satzebene, spielt eine entscheidende Rolle für den Erwerb von Syntax und Lexikon. Was passiert im Gehirn, wenn wenige Monate alte Kinder gesprochene Sprache hören, welche sprachlichen Signale werden ab wann wie verarbeitet? Hierfür kann das EEG verhaltensunabhängige Daten beispielsweise über die Fähigkeit zur frühen Unterscheidung von Silben zur Verfügung stellen. Erste Studien zeigen, dass Hinweise auf frühe Restriktionen bei der Verarbeitung phonologischer Informationen bereits Vorläufer von späteren Entwicklungsauffälligkeiten sein können.
Wenn bei etwas älteren Kindern bereits Sprachförderbedarf besteht und entsprechende Maßnahmen durchgeführt werden, ist es wichtig, den Erfolg der Maßnahme im Verlauf zu evaluieren: Es gibt immer einen Prozentsatz von Risikokindern, die von erhaltenen Maßnahmen nicht profitieren und die dann oft erst spät auffallen, beispielsweise, wenn sie in der Schule scheitern. Um diese früher entdecken und die Effekte einer Maßnahme engmaschig evaluieren zu können, hat Melanie Besca gemeinsam mit
Mario Ennemoser (Ludwigsburg) für den Bereich Sprachproduktion ein Verfahren zum Nachsprechen von Sätzen entwickelt, das mehrere Paralleltests enthält und daher für häufige Testwiederholung ohne testbedingte Lerneffekte geeignet ist. Die ersten empirischen Ergebnisse dazu wurden vorgestellt und sind vielversprechend.
Darum, wie gut Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren innere Zustände beschreiben können, ging es im Beitrag von Theresa Strätz und Christina Kauschke (Marburg). Experimentell untersucht wurden die Reaktionen der Kinder auf emotionale Ausdrücke beim Gesprächspartner – einer Handpuppe – in einer teil-standardisierten, realen Interaktionssituation (verschüttetes Malwasser). Berichtet wurden erste quantitative Auswertungen der Videoaufzeichnungen auf Wortebene, die qualitativen Analysen auf Satz- und Gesprächsebene waren noch nicht abgeschlossen.
Da der Vortrag von Frank Domahs (Erfurt) zur Verbesserung der Leseleistung durch prosodisch angereicherte Schrift leider krankheitsbedingt kurzfristig ausfallen musste, hat zum Abschluss des ersten Tages die Arbeitsgruppe von Stephan Sallat, Stefanie Hahn, Nadin Helbig, Maria Busch und Maren Eikerling (Halle, Leipzig) das Projekt „Sprachnetz“ zur digitalen interdisziplinären Vernetzung in der sprachbezogenen Förderdiagnostik vorgestellt. Hier soll es darum gehen, verschiedene, mit Sprachförderbedarf einhergehende Perspektiven möglichst digital zusammenzuführen und dabei neben der sprachphänomenologischen Ebene (z.B. Sprachtests) auch den Entwicklungsverlauf miteinzubeziehen und die Subjekt-, Lebens-, Bildungs- und Beziehungsperspektive dabei ebenfalls in den Blick zu nehmen. Ziele des Projekts sind u.a., digitale Lehr-/Lernangebote zu entwickeln sowie eine Implementierung der Vernetzung in die Praxis.
Am zweiten Tag führte Marschik unter dem durchaus provokant gemeinten Titel „Zuerst v/Verhalten!?“ – ähnlich wie Männel am Vortag – noch einmal aus, wie wichtig es ist, früh subtile („verhalten“e) Zeichen als Marker für spätere Verhaltens- und Entwicklungsstörungen zu erkennen. Gesucht wird, auch unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz, in verschiedenen Domänen (Vokalisationen, Bewegung,
Blickkontakt usw.) ein störungsspezifisches Muster von Entwicklungsabweichungen, das ggf. frühere Diagnosen und Interventionen ermöglichen soll. Dazu zeigte er u.a. Beispiele für früh sichtbare Abweichungen in Bewegungsmustern bzw. Lautäußerungen bei Kindern, die später eine Diagnose wie Rett-Syndrom oder Zerebralparese erhalten haben. Außerdem stellte Marschik das fahrende Göttinger Beobachtungslabor vor, das die Familien aufsuchen kann, anstatt sie ins Labor zu bitten. Geplant ist, damit den Entwicklungsverlauf von jungen Säuglingen ab dem ersten Monat regelmäßig und engmaschig zu erfassen.
Im Vortrag von Steffi Sachse, Tamara Lautenschläger und Katja Schneller (Heidelberg) lag der Fokus auf dem Thema Mehrsprachigkeit. In Deutschland gibt es dazu immer noch wenige Längsschnittstudien. Vorgestellt wurden wiederholt an denselben Kindern im Kindergartenalter erhobene Daten. Beobachtet wurde die Sprachentwicklung im Alter zwischen drei und sechs Jahren bei Kindern mit den Herkunftssprachen Türkisch und Russisch auf verschiedenen sprachlichen Ebenen wie Wortschatz, Grammatik und Erzählfähigkeit. Ziel war, eine gemeinsame, vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Herkunftssprachen zu ermöglichen.
Von Daten derselben Altersgruppe, nämlich 4-jährigen Kindern, berichtete die Arbeitsgruppe um Claudia Steinbrink (Erfurt), Nadin Helbing, Stephan Sallat (Halle, Leipzig) und Daniel Buttelmann (Bern). Der Querschnitt an diesmal monolingual deutschsprachigen Kindern untersuchte differentielle Beziehungen zwischen sprachlichen Leistungen (Wortschatz und Grammatik, je rezeptiv und produktiv) und der phonologischen Bewusstheit. Bis auf den rezeptiven Wortschatz waren alle sprachlichen Leistungen mit der phonologischen Bewusstheit assoziiert. Hypothesen zur Erklärung der unterschiedlich hohen Zusammenhänge wurden vorgestellt.
Abschließend stellten Stefanie Hahn, Maren Eikerling und Stephan Sallat (Halle) Ergebnisse von leifadengestützen Expert:inneninterviews zur professionsbezogenen Sicht auf Potentiale und Herausforderungen der digitalen Förderplanung vor. Beteiligt waren an den Fokusgruppen verschiedene Disziplinen wie pädagogische Fachkräfte,
Kinderärzt:innen, Frühförderstellen u.a.. Es zeigten sich beispielsweise Unterschiede in den Mitteln der Einschätzung der sprachlicher Fähigkeiten, den Entscheidungsgrundlagen und den Kommunikationswegen. Als potentielle Hürde hat sich neben dem generellen Aufwand einer umfangreichen Förderdiagnostik auch der Umgang mit digitalen Anwendungen abgezeichnet.
Die 37. Arbeitstagung wies damit trotz einiger Ausfälle ein relativ breites Themenspektrum mit grundlagen- und anwendungsorientierten Themen und Forschungsergebnissen auf. Es gab zahlreiche konstruktive Diskussionsbeiträge und auch außerhalb des eigentlichen Tagungsprogramms kam es zu einem regen kollegialen Austausch. Das Feedback war insgesamt sehr positiv. Das Organisationsteam dankt allen Referierenden und den Teilnehmenden und freut sich sehr auf die kommende, dann 38. Arbeitstagung vom 4. bis 5. Mai 2023.
Petra Korntheuer (Fachgruppenleitung), Frankfurt